Das hölzerne Tor hat kein Schild, dahinter läuft man eine Weile über trockenes Gras, bis der Olivenhain beginnt. Und dann sieht man sie auf dem Boden, die Platten aus weißem Zement, ungeschmückt: Gräber. Mehr als 29.000 Menschen kamen in den vergangenen zehn Jahren bei der Flucht nach Europa ums Leben oder gelten als vermisst. Viele der Toten liegen auf dem Grund des Mittelmeers, einige von ihnen liegen hier, am Rand des Dorfes Kato Tritos auf der griechischen Insel Lesbos. Ein Zaun spannt sich um das Gelände, ohne Schlüssel kommt man nur durch ein Loch vom Nachbargrundstückaus hinein, so wie der Hund, der durch das hoch gewachsene Gras streunt. Das letzte Grab ist nicht mehr als eine Woche alt, die aufgeschüttete Erde noch frisch. Auch darüber wird eine Zementschicht kommen. Selbst auf diesem Hügel, von dem aus man das Meer kaum noch riecht, ist der Inselboden feucht und nachgiebig, ohne Zement fällt er immer wieder über den Begrabenen ein. Die Marmorplatten, als Grabsteine in den Zement eingelassen, sind neu.
Hier ist jetzt ein Friedhof, vorher war es ein Stück Land, in dessen Erde Menschen vergraben wurden. Was ist eigentlich der Unterschied?
Sayeed Arash Hashemi
Nasir Jafari
Unbekannt (Baby)
Afsaneh Zargari, 23/05/2020
»Das Wichtigste an einer muslimischen Bestattung ist der Respekt«, sagt Mohammad Ganij, der Witwer der verstorbenen Afsaneh Zargari. Das hepaar stammt aus Afghanistan und ist mit einem Gummiboot auf die Insel gekommen. Afsaneh ist nicht ertrunken, sie wurde im übefüllten Flüchtlingscamp Moria von einer anderen Frau erstochen, kurz bevor das Lager vor vier Jahren abbrannte. Die Kinder der beiden Frauen hätten gestritten, heißt es in Medienberichten. Mohammad Ganij sagt, der Konflikt habe auch einen ethnischen Hintergrund gehabt. Afsaneh sei Angehörige der Hasara gewesen, einer Volksgruppe, die in Afghanistan verfolgt wird. Er wohnt heute mit den beiden Söhnen in Deutschland, wo man ihn per Videoanruf erreichen kann. Damals sah der Olivenhain anders aus, sagt er und schickt Fotos, auf denen überwucherte Hügel zu sehen sind, verwitterte Holzplatten oder einfache Steine, auf die mit Filzstift ein Name geschrieben war. Er erzählt von Füchsen, die sich über Knochen hermachten. Von einem dreckigen Raum, der für Totenwaschungen gedacht war, vom steinigen Boden, den er selbst ausheben musste, ein Stück, groß genug für den Körper von Afsaneh. Er sagt, erhasse sich selbst dafür, sie dort gelassen zu haben. Dass Afsaneh hier liegt statt auf dem lokalen Friedhof der Inselhauptstadt Mytilini, hängt mit
dem Jahr 2015 zusammen. Damals galt der Seeweg von der Türkei nach Griechenland als die
meistbefahrene Fluchtroute über das Mittelmeer. Im Herbst hatte es geheißen: Der Friedhof von Mytilini sei voll. Zwar nicht der ganze, aber die hintere Ecke, die für Geflüchtete gedacht war. Es gab Dutzende Leichen und keinen Platz. Auf den christlichen Friedhöfen der Insel seien muslimische Bestattungen ohnehin nicht gern gesehen, sagen Mitarbeiterinnen verschiedener NGOs vor Ort. Nach einigen Wochen, in denendie ertrunkenen Menschen in Kühlcontainern lagerten, stellte die Gemeinde den Olivenhain in Kato Tritos zur Verfügung. Von Mytilini aus fährt man etwa 15 Kilometer dorthin, entlang an einem Meer, das so blau strahlt, als würde es nicht die Toten bringen.
Eine griechische NGO, die sich eigentlich um die medizinische Versorgung von Ankommenden kümmert, setzte sich dafür ein, dass aus dem Olivenhain ein echter Friedhof wurde. An einem Mittwoch im April wird er mit einem Festakt eingeweiht, langsam füllt sich die Wiese mit etwa fünfzig Gästen. Einige Geflüchtete sind aus dem Camp an der Küste gekommen. Der Hund, der durch das Loch im Zaun gekrochen ist, jagt fröhlich kreischende Kinder über den Olivenhain. Ihre Füße treten auf den Zement, der Hund nicht, als ahnte er, was darunter liegt. Während der Schweigeminute dröhnt der Wind wie Donner ins Mikro, das niemand ausgeschaltet hat. Bevor sie die Gräber unter dem Gestrüpp freilegen konnten, mussten die Freiwilligen zwei Trucks mit Abfall vom Gelände wegfahren, erzählt Fabiola Velasquez, die Leiterin der NGO: Da war nicht nur Plastikmüll, es waren auch Hosen, Jacken und Schuhe der Toten darunter. Heute liegt nichts mehr herum, nur der Blumenkranz ist von einem Grab geweht: Zaynab Mansrai, 2022 geboren, 2022 gestorben.
Maryam Acilahi
Yasmin Alodi
Unbekannt (Mann)
Unbekannt (Frau)
Der Waschraum am Rand des Friedhofs ist inzwischen sauber, für einen zweiten gab es keine Genehmigung der Gemeinde. So eine islamische Totenwaschung kann schon mal eine Stunde dauern, und wenn ein Schiff untergeht, braucht man womöglich den ganzen Tag. Man könnte die Hütte für einen Geräteschuppen halten, tatsächlich liegen einige Schaufeln darin. Für die Überführung der Toten zum Friedhof kommt die Gemeinde auf, das Grab heben oft Angehörige selbst aus, meistens ist auch Moustafa Dawa dabei. Seit 2015 kümmere er sich in Absprache mit der Gemeinde um Bestattungen, erzählt Dawa. Er ist Vorbeter, steht dann am Grab und spricht das Totengebet, die Handflächen erhoben,
während er sagt: Allah ist groß. In viele der weißen Marmorplatten ist ein »Unbekannt« graviert. Besonders nach Schiffbrüchen ist es schwierig, Menschen zu identifizieren. Den Familien, die Verwandte suchen, kann manchmal die Polizei, manchmal die Küstenwache, manchmal die Gerichtsmedizin weiterhelfen. Normalerweise macht das lokale Krankenhaus Fotos von den Leichen und entnimmt eine DNAProbe, ein Gerichtsmediziner stellt einen Totenschein it einer Fallnummer aus. Angehörige können bei der Gerichtsmedizin DNA-Proben abgeben, die mit denen der Toten abgeglichen werden. Man braucht eine Probe von direkten Verwandten, also von Eltern oder Kindern, eine von Geschwistern reicht nicht. Oft sind Familien mit Fluchtgeschichte aber über Kontinente verstreut. Und auf Fotos erkennen selbst Verwandte ihre toten Angehörigen nicht unbedingt wieder, gerade wenn die Leichen aus dem Meer kommen. Es gibt Merkmale wie Zahnlücken oder Knochenbrüche, an die sich amilienmitglieder erinnern könnten. Das Internationale Rote Kreuz beklagt seit Jahren, dass solche Daten in der EU beim Ausstellen des Totenscheins nicht einheitlich erhoben werden – sie sind oft die einzige Möglichkeit, Vermisste zu finden. Nicht einmal die Hälfte der Menschen, die tot geborgen werden, wird identifiziert, schreibt das Internationale Rote Kreuz in einem Bericht.
Said Mohamad, 39 Jahre, 23/03/2016
Unbekannt (Mädchen)
Jamshedi Jamal
Die neuen Grabsteine haben sie mit dem beschriftet, was auf den alten Holzstücken oder
Steinplatten noch zu entziffern war, sagt NGO-Chefin Fabiola Velasquez. Vieles habe man nicht mehr lesen können, einige Steine seien zerbrochen, zahlreiche Gräber gar nicht markiert gewesen. Die Gäste vom Festakt verlassen den Friedhof wieder, steigen in ihre Autos, zu Fuß kommt man von hier kaum weg. Auf den Gräbern der Geflüchteten in Kato Tritos liegen noch rote Plastikrosen, die Stiele mit Kieseln beschwert, trotzdem when sie leicht davon. Ein Ort zum Trauern, das kann helfen. Momentan ist das Tor von der Gemeinde moistens verschlossen, auch aus Angst vor Vandalismus.
Auf Google Maps ist der Friedhof nicht eingezeichnet, er hat keine Adresse.
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